OLYMPUS DIGITAL CAMERABZ Praktikantin Evelyn Rosar bei Günter Grass

Durch Günter Grass habe ich verstanden, was Literatur bedeutet

Ich habe Angst, dass Literatur jetzt tot ist. Denn Günter Grass ist tot.

Mit verlaufener Schminke und verquollenen Augen sitze ich auf der Arbeit und versuche zu erklären, warum es so schlimm ist, dass ein 87-jähriger Mann gestorben ist.

Die einen sind Fan von Robbie Williams. Für mich war der alte Mann in Tweedanzügen und Pfeife im Mund mein Popstar. Seine Sätze sind Musik.

Durch ihn habe ich verstanden, was Literatur ist, welche Macht Worte haben. Wer das Wort hat, hat die Macht. Wer schreiben kann, ist mächtig. Und ja, er war mächtig, jedes einzelne seiner Worte haut mich um.

Meine Mitschülerinnen haben sich 2002 mit 17 im Normandie-Urlaub in den 20-jährigen Kellner verliebt. Ich habe mich in den 74-jährigen Günter Grass verliebt. In jeden endloslangen Satz auf 819 Seiten „Blechtrommel“. Pflichtlektüre Abi.

Auf Dias sieht man mich nie ohne diesen dicken Wälzer: Strand, Gartenliege, Bett. Günter und Oskar Matzerath waren immer dabei.

Eigentlich mag ich keine dicken Bücher, weil ich nicht mag, wenn Schreiber sich nicht kurz fassen und auf den Punkt kommen können. Aber von Günter Grass’ Worten ist kein einziges zu viel. Jedes einzelne bringt es auf den Punkt und ist so wichtig.

Ich las seine langen, hypotaktischen Sätze einmal, zweimal, dreimal. Weil viel mehr drinsteckte als mein kleines Hirn beim ersten Mal hatte erfassen können.

Wie kommt man bitte auf die Idee die Figur des Oskar Matzerath, ein erwachsener Dreijähriger, der aus der Froschperspektive Danzig zur NS-Zeit erlebt, zu entwickeln? Wie geht sowas?! Das kann doch niemand.

Ich habe Angst, dass ich in Zukunft nur noch Schriftsteller lesen werde, deren Sätze so kurz sind wie ihre Haltbarkeit. Einwortsätze von Autoren, die wir morgen vergessen haben werden. Über Themen, über die wir nicht diskutieren sollten: Intimhygiene und sexuelle Vorlieben statt der zweite Weltkrieg und unsere Nazi-Vergangenheit.

Mit verlaufener Schminke und verquollenen Augen nehme ich das Buch „Die Box” in die Hand. Dort stehen zwei krakelige Worte: Günter Grass. 2008 hat er sie hier reingeschrieben. Ich atme auf, sie stehen wirklich da. Sie sind nicht verschwunden.

Die auf den folgenden 216 Seiten auch nicht. Zum Glück. Ich weiß, was ich heute Abend mache. Ich werde jedes einzelne Wort in diesem Buch aufsaugen, mir sie ins Gedächtnis einbrennen, damit ich sie nicht vergesse. Weil ich Angst habe, dass sie verblassen und verschwinden könnten. So wie er.

Ich bin so unendlich traurig. Aber dieses Gefühl kann ich in meinen doofen Einwort-Sätzen gar nicht beschreiben. Er hätte es gekonnt.